Wie blicke ich auf ein Museumsobjekt? Wie beschreibe ich es?
Claudia Böhme ist Historikerin und Kunstpädagogin und stellt uns im Podcast „Sag mir, was du siehst“ Fragen aus ihrer Perspektive als blinde Person zu unseren Objekten aus Technik und Kunst.
Die erste Staffel des Podcast umfasst sechs Folgen, die seit dem 7. März 2023 in einem zweiwöchentlichen Rhythmus auf unseren Kanälen veröffentlicht werden.
Ergänzend zum Podcast haben wir ein Interview mit der blinden Kunstpädagogin und Historikerin Claudia Böhme geführt. Die Fragen stellte unsere Bloggerin Sabine Ochaba, die selbst sehbehindert ist.
Frau Böhme, zuerst einmal eine Frage, die Ihnen sicherlich sehr oft gestellt wird: Sind Sie geburtsblind?
Nein, diese Frage hat mir so direkt noch niemand gestellt. Ich lege selbst Wert darauf zu sagen, dass ich von Geburt an hochgradig sehbehindert bin, weil die Mehrzahl der blinden Menschen erst später in diese Lage kommt. Inzwischen gelte ich als gesetzlich blind.
Sie haben trotz Ihrer Blindheit Kunstpädagogik und Geschichte studiert. Ist der Bereich „Kunst“ nicht ein sehr visueller Bereich, wenn man von Skulpturen einmal absieht, die man betasten könnte?
Diese Frage hat sich bei der Wahl der Fächerkombination gar nicht gestellt, weil es die einzige war, die für mich gepasst hat. In der Kunstpädagogik geht es in erster Linie darum, über Kunst zu sprechen und sie erfahrbar zu machen, das heißt um Didaktik und Methoden, um Materialien und Techniken. Natürlich muss man auch wissen, worüber man spricht. Theoretisches Wissen über Kunstgeschichte habe ich mir angeeignet. Ob ein blinder Mensch tatsächlich Kunstgeschichte als solches studieren könnte, hängt sicher entscheidend von einer gewissen Unterstützung durch Dozent*innen oder eine gute Assistenz ab. Dafür ist es auch sicherlich von großem Vorteil, wenn die betreffende Person einmal gut gesehen hat und beispielsweise Vorstellungen von Perspektiven und Darstellungen von Licht auf Gemälden hat.

Was bedeutet Kunst für Sie?
Kunst bedeutet für mich so etwas wie Horizonterweiterung, etwas, was Diskussionen und Meinungsaustausch in Gang bringen kann. Wenn Kunst berührt werden kann, kommt ein stark sinnlicher Aspekt hinzu, den ich manchmal fast als meditativ empfinde.
Foto: Sinje Hasheider
Was kann Kunst Ihrer Meinung nach der Gesellschaft und den Menschen sagen?
Ich finde, sie kann Anlass bieten, inne zu halten, Abstand vom Alltag zu gewinnen.
Welche Rolle spielen Farben für Sie?
Dadurch, dass ich zwar sehr wenig, aber doch noch etwas sehe, spielen Farben natürlich eine Rolle. Und ich glaube, dass ich aufgrund des wenigen Sehens eher einen Hang zu kräftigen bis sehr kräftigen Farben habe. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, T-Shirts in Neonfarben zu tragen, mache das aber nicht, weil ich glaube, das wäre zu anstrengend für die Augen meiner Mitmenschen.
Welche Informationen benötigen Sie, um ein museales Exponat erfassen zu können?
Ganz wichtig ist dabei durch Sprache vermittelte Information. Davon kann ich gar nicht genug bekommen. Wenn dann das Exponat auch noch berührt werden darf, ist das super. Natürlich ist das aus restauratorischen Gründen meist nicht möglich. Dann muss man schauen, welche Alternativen es gibt: Vergleichbares aus dem Depot, Replikate, Stoffproben, wenn das Exponat etwas mit Kleidung zu tun hat, einzelne Gegenstände, die auf einem Gemälde präsent und interessant sind …
Sie haben zu unseren Exponaten auf unserem Podcast „Sag‘ mir, was du siehst“ Fragen gestellt. Haben Ihnen die Antworten genügt?
Ich habe erst aufgehört zu fragen, wenn ich das Gefühl hatte, einen umfassenden Eindruck vom Exponat gewonnen zu haben.
Was haben Sie jetzt, nach der Produktion, für einen Eindruck vom Zeppelin Museum?
Ich kannte bisher nur seine technische Seite. Jetzt habe ich auch einen Einblick in den Teil, der sich mit Kunst befasst. Technik und Kunst spielen sehr gut zusammen, was mir zuvor gar nicht so klar war.
Reicht es aus, wenn Exponate beschrieben werden, oder möchten Sie sie lieber befühlen?
Für das Lernen oder sagen wir vielleicht besser für das nachhaltige Erinnern an einen Museumsbesuch ist es immer, und das gilt für alle Besucher*innen, sinnvoll, Informationen so anzubieten, dass möglichst viele Sinne angesprochen werden. Wenn ich es mir aussuchen dürfte, dann hätte ich gerne Beschreibungen, Tastmöglichkeiten, Hörstationen mit vertiefenden Informationen, Stationen, an denen ich etwas ausprobieren kann, ein Café mit schönem Ambiente und am Schluss etwas zum Mitnehmen.

Gehen Sie in Ihrer Freizeit auch in Museen?
Da verschmilzt die Freizeit mit dem Beruf. Beruflich sehe ich mir in erster Linie Ausstellungen an, von denen ich weiß, dass es dort Angebote für blinde und sehbehinderte Menschen gibt. Ich möchte wissen, wie verschiedene Themen umgesetzt wurden. Es gibt aber auch den Fall, dass ich über ein Museum etwas gelesen oder gehört habe, was mich angesprochen hat, und deshalb dorthin möchte. Das ging mir beispielsweise so mit dem Rijksmuseum in Amsterdam, dem Kunsthistorischen Museum in Wien oder dem Kelvingrove Art Gallery And Museum in Glasgow. Das waren jetzt lauter internationale Beispiele. Da fliegt man nicht eben so hin, sondern um sich international umzusehen, müssen schon mehrere interessante Sachen zusammenkommen, damit sich die Reise lohnt. In Deutschland würde ich gerne das Museum Barberini in Potsdam besuchen.
Wie wichtig ist es für Sie, wie die Dinge aussehen?
Ich könnte gar nicht sagen, dass das Aussehen so wichtig ist. Ich glaube, dass für mich Ästhetik eher ein Gefühl ist und in erster Linie den Tastsinn betrifft. Und so gesehen ist mir Ästhetik und eine ästhetische Umgebung schon sehr wichtig.
Was muss ein Museum leisten, dass ein Besuch im Museum für eine blinde Person einen Mehrwert hat bzw. überhaupt stattfinden kann?
Zu allererst muss ein Museum meiner Meinung nach eine Willkommenskultur entwickeln und transportieren. Diese Willkommenskultur muss die Gesamtheit der Besucher*innen einschließen. Jeder Gast, der ein Museum betritt, sollte sich wohlfühlen. Da ist es schon entscheidend, dass das Personal an der Kasse freundlich und kundenorientiert ist und für jeden die entsprechende Information zur Hand hat bzw. bereit ist, diese zu erfragen. Das nächste wäre ein regelmäßiges Angebot von Führungen. Wobei regelmäßig nicht monatlich heißen muss, aber mindestens zwei bis dreimal im Jahr. Als nächstes könnte die Dauerausstellung bearbeitet werden usw. Es gibt aus meiner Sicht sehr viele Möglichkeiten, etwas für blinde und sehbehinderte Menschen zu tun, bevor man an die Verlegung eines taktilen Leitsystems denken sollte.

Welche digitalen Angebote von Museen nutzen Sie?
Telefonführungen oder Angebote über Zoom & Co. Ich habe bisher digitale Angebote für ein allgemeines Publikum noch nicht wahrgenommen, d. h. ich kann nicht sagen, ob die auch für blinde Menschen funktionieren würden. Ich meine damit digitale Ausstellungen. Um die mitnutzen zu können, bedarf es einer unbedingt barrierefreien und übersichtlichen Website.
Was würden Sie sich als blinde Person – Stichwort Barrierefreiheit – von Museen und anderen Kultureinrichtungen wünschen?
Ich sehe da bei vielen doch eine gewisse Aufgeschlossenheit. Ein Angebot zu machen ist eine Sache. Blinde Menschen zu motivieren, diese Angebote zu nutzen, also zu sehen, dass Museen, Ausstellungen und Theater etwas für sie zu bieten haben, eine andere, an der wir als Betroffene genauso arbeiten sollten.
Vielen Dank für das Interview!
„Sag mir, was du siehst“: Überall dort, wo es Podcasts gibt!
Gefördert wird das Podcastprojekt vom Zentrum für kulturelle Teilhabe – eine Einrichtung vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg. Der Podcast ist Teil des Pilotprojektes „MitbeStimmungsorte. Gesellschaftliche Teilhabe am Museum fördern“.