Eva Eberwein, Mia- und Hermann- Hesse- Haus, Gaienhofen
„Wer war sie denn schon? Sie hat doch nur Bedeutung gewonnen, weil sie Hermann Hesse geheiratet hatte.“
Mit diesem Zitat eines heutigen Zeitgenossen, der nicht genannt werden will, ist ein Phänomen beschrieben, welches viele Frauen berühmter Männer erleiden mussten. Obwohl diese Frauen eine Vita mit eigenen Interessen und Befähigungen hatten, wurden sie häufig nur als Anhängsel wahrgenommen.
So erging es auch der ersten Ehefrau von Hermann Hesse, der Photographin Mia (Maria) Hesse, die mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Hermann Hesse, von 1904 bis 1912 in Gaienhofen auf der Halbinsel Höri am Untersee des Bodensees gelebt hat. In den Retrospektiven über Hermann Hesse schien ihre Rolle förmlich ausradiert, bis ihre Person dank eines engagierten Arbeitskreises ab 2006 wieder Gestalt annehmen durfte und sie damit aus dem Schatten heraustrat.
Wer war sie wirklich, was machte sie aus?
Mia Bernoulli wurde im August 1868 in das ehrwürdige, in Basel lebende Geschlecht der Familie Bernoulli hineingeboren. Die Familie hatte einen guten Ruf: Unter ihren Vorfahren finden sich u.a. berühmte Mathematiker und Astronomen. Die Familie gehörte schon seit dem 16. Jahrhundert zum Basler Daig, einer großbürgerlichen Elite von Basler Familien, die sich seit jeher um die Stadt verdient gemacht hatten. Die Angehörigen hielten wichtige Positionen im Stadtgeschehen inne und folgten einem internen ungeschriebenen Regelwerk, das Verhaltensweisen, Bildungswege und Heiratsstrategien festlegte.
„Als man der Familie den Adelstitel antrug, ließen sie ausrichten, sie seien schon wer, sie benötigten ihn nicht“ eine Nachfahrin
Mia wuchs in materieller Sicherheit, aber auch in einer gesellschaftlichen Erstarrung auf, die für die weiblichen Nachkommen einer solchen Familie nur wenig Entfaltungsmöglichkeiten vorsah: Der Besuch einer höheren Töchterschule sollte die Rolle der Ehefrau in Punkto Haushaltsführung, gesellschaftliches Auftreten, Musizieren und Konversation vorbereiten, während für die männlichen Linien eine akademische Ausbildung vorgesehen war: Mias Bruder Friedrich studierte Theologie, für Bruder Adolf war ein Medizinstudium vorgesehen.
Nach dem Schulabschluss war es für höhere Töchter noch möglich, etwas Feingeistiges wie das Erlernen von Zeichnen, das Vertiefen von Sprachkenntnissen oder die Ausführung sozialer Tätigkeiten aufzunehmen. Doch mit dem Erreichen des 20. Lebensjahres war es auch schon an der Zeit, mittels Debütantinnenbällen nach einer passenden Partie für die Verehelichung zu suchen, wobei man sich üblicherweise in Familien des eigenen Standes orientierte: Man heiratete unter sich.
Mia schert mit ihrer Schwester aus: „Bilder zu machen ohne zu zeichnen“
Zwei Töchter aus dem Hause Bernoulli dachten nicht daran, dem üblichen Weg zu folgen: Mias jüngste Schwester Mathilde – genannt „Tuccia“- lehnte das frühe zukünftige Leben ausschließlich als Hausfrau und Mutter entschieden ab und fand in ihrer Schwester Unterstützung in diesem Ansinnen. Die beiden jungen Frauen setzten alles daran, den widerstrebenden Vater von einer Berufsausbildung als Photographinnen zu überzeugen: Es gab heftige Auseinandersetzungen, bevor sich der Vater entschließen konnte, dass seine Töchter abseits der gesellschaftlichen Normvorstellung die ersehnte photographischen Ausbildung beginnen konnten.
Nach Deutschland zur Ausbildung
Ab 1901 bis Ende 1902 begannen Mia und Tuccia als Volontärinnen in München im legendären Frauen – Photoatelier Elvira ihre Ausbildung. Sie erlernten schließlich in Berlin und in Hamburg bei dem renommierten Photographen Rudolf Dührkoop die technischen Voraussetzungen verbunden mit den neuen Ausdrucksmöglichkeiten der künstlerischen Portraitphotographie, bevor sie wieder nach Basel zurückkehrten.
War es die Bedingung des Vaters, dass seine Töchter dem Visus der strengen Basler Gesellschaft nicht ausgesetzt sein sollten, wenn sie eine unübliche Berufsausbildung begannen? Oder war es die fehlende Möglichkeit für eine photographische Ausbildung für Frauen in der Schweiz? War etwa die kostengünstigere Lebensführung in Deutschland ein Grund, da der Finanzrahmen für die Töchter überschaubar gehalten werden sollte? Alle Gründe mögen damals eine Rolle gespielt haben.
Das eigene Photoatelier in der Bäumleingasse 14 in Basel: „Tout Bâle ließ sich dort photographieren…“ eine Nachfahrin
Im September 1902 eröffneten die Schwestern in der Basler Altstadt das Atelier für „Kunstphotographie M & T Bernoulli“ in der berechtigten Hoffnung, ihren Lebensunterhalt dank der Kundschaft aus der Basler Gesellschaft erzielen zu können. Ihr Plan schien aufzugehen: Neben der neugierig gewordenen Basler Gesellschaft verbreiteten bekannte Persönlichkeiten wie Hans Thoma, der sich ablichten ließ, den Ruf des Ateliers. Dieser Nobilitierung folgte die Teilnahme an Photoausstellungen in Bozen, Dresden und Den Haag. Eine Ausstellung in Wiesbaden brachte dem Atelier eine Auszeichnung für eine Portraitaufnahme ein.
Kunstphotographie: Die innovative naturnahe Ausdrucksform der Zeit um 1900
Vor 1900 fertigte man eine Ablichtung, indem die zu portraitierende Person im Sonntagsstaat idealisiert dargestellt und anschließend retouchiert wurde, das Setting bestand aus gemalten Landschaftskulissen oder Pappmachéinterieurs des Ateliers. Ab 1900 wurde diese Art der Ablichtungen als unmodern und unnatürlich charakterisiert. Die aufkommende Kunstphotographie arbeitete das Charakteristische der abzubildenden Person unverstellt vor natürlichem Hintergrund mittels einer Tageslichtphotographie heraus. Landschaftsaufnahmen ließen Wolkenspiele zu, der Mensch im Wohn- und Arbeitsumfeld spielte statt herausgeputzter Feiertagsszenen zunehmend eine Rolle. Die belichteten Glasplatten wurden anschließend in verschiedenen Auskopierverfahren auf unterschiedliche Papierqualitäten aufgebracht, was die hohe Ausdruckskraft der Schwarzweißaufnahmen verstärkte. Die Aufnahmen wirkten oft wie Gemälde – eben wie Kunst.
Hermann Hesse und Mia Bernoulli – eine folgenreiche Begegnung im Jahr 1903
Mia stand wenige Monate nach der Eröffnung des Photoateliers in der Blüte ihrer Schaffenskraft. Sie war selbstsicher, tüchtig und machte einen unabhängigen Eindruck. Sie war 35 Jahre alt, als sie Anfang 1903 den neun Jahre jüngeren Hermann Hesse kennen lernte, der in der unmittelbaren Nähe des Ateliers in einem Basler Buchantiquariat arbeitete. Noch war er weit davon entfernt, ein erfolgreicher Schriftsteller zu sein- Mia war zu dem Zeitpunkt wesentlich arrivierter, hatte mehr Lebenserfahrung. Die Beziehung mit dem empfindsamen und spröden Dichter nahm rasch Fahrt auf und führte zur Eheschließung im Jahr 1904 – gegen den Widerstand der Eltern von Mia, die den als pietistischen Schreiberling empfundenen Hesse als eine unpassende Partie für ihre Tochter hielten.
Das beschauliche Dörfchen Gaienhofen auf der Halbinsel Höri als gemeinsamer Wohnort
Das Ehepaar Hesse ließ sich in Gaienhofen am Untersee des Bodensees zunächst in einem betagten Bauernhaus nieder – nachdem sich das Ehepaar entschlossen hatte, dem Stadtleben den Rücken zu kehren, um in einfacher ländlicher Umgebung ein naturnahes Leben führen zu wollen. Der Ort schien eine gesunde idyllische Alternative für den gemeinsamen Start in die Ehe zu bieten, begleitet von allerlei Idealisierungen, die die beiden Stadtmenschen in sich trugen. Es hätte jedes andere Dorf am See sein können – solange Mias Heimatstadt Basel mit Photoatelier, Eltern und Gesellschaft sich noch gut erreichen ließe, genau das war in Gaienhofen durch die Bahnanbindung im gegenüberliegenden Städtchen Steckborn gegeben. Mia war demnach die treibende Kraft für die Wahl von Gaienhofen als Wohnort, wie Hesse später bekannte, was aber lange in der öffentlichen Meinung nicht wahrgenommen wurde. Hesse beschrieb Mia grundsätzlich als tüchtiger, zäher und furchtloser als er es war, man gewinnt den Eindruck, dass die mütterlich umsorgende Mia eher eine Rolle für ihn war als die selbstständig handelnde Mia, die auch in Gaienhofen nicht daran dachte, ihre photographischen Arbeiten aufzugeben. Aus der Zeit sind einige ihrer Aufnahmen von den Kindern, der Landschaft und dem Dorfleben erhalten.
Nach zwei Jahren entschloss sich das Ehepaar, in ein geräumiges Haus umzuziehen, welches nach eigenen Vorstellungen gebaut werden sollte. Es war beschlossene Sache, dauerhaft hier in dieser schönen Landschaft sesshaft zu werden.
Hermann Hesse als Bauherrschaft in Gaienhofen – ein Trugschluss
Noch bis vor wenigen Jahren wurde in einschlägigen Publikationen Hermann Hesse als alleiniger Bauherr der Villa dargestellt, die 1907 auf einer Anhöhe oberhalb von Gaienhofen errichtet wurde. Erst im Laufe der letzten 15 Jahre wurde deutlich, dass es Mia Hesse war, die dank eines zinslosen Darlehens ihres Vaters den größten Teil der Finanzierung des Hauses leistete, sodass an der soliden großzügigen Ausstattung keine Abstriche gemacht werden musste. Als Hesse die Baupläne unterzeichnete, ahnte niemand in Gaienhofen, dass Mia neben der Finanzierung des Vorhabens auch wesentlich die Planung und Bauaufsicht inne hatte: Mit dem Architekten H. Hindermann, der durch Einheirat in die Familie Bernoulli mit Mia verwandt war, entstand so auf der deutschen Seeseite ein Schweizer Landhaus ganz nach ihren Vorstellungen. Sie versuchte sich so als Schweizerin hier in der Fremde offenbar ein wenig Heimatgeruch zu etablieren. Auch das Basler Photoatelier zog 1907 hier in das stattliche Haus ein: Mia ließ ein Tageslichtatelier und eine Dunkelkammer ausbauen, um zukünftig autark die zu erwartende Kundschaft aus dem Dorf bedienen zu können.
Die Idylle in Gaienhofen bekommt Risse
Im Laufe von nur fünf Jahren verändert sich das Leben von Mia Hesse in Gaienhofen dahingehend, dass sie immer mehr in die traditionelle Frauenrolle der Dienenden glitt und ihre ursprüngliche Kraft zu verlieren begann. Wie ist das zu erklären?
Mia Hesse wurde zunehmend mehr gefordert durch die drei Söhne Bruno, Heiner und Martin, außerdem geriet der von Hesse gewünschte Vegetarismus am äußersten Ende von Deutschland zu einem tagfüllenden und zunächst von ihr unterschätzten Unterfangen. Zitronen, Orangen, Grahambrot und Kokosfett mussten mühselig aus Konstanz oder von anderswo beschafft werden, denn in Gaienhofen gab es damals keinen einzigen Laden. Das Ernten, die Wäsche und das Sauberhalten, das Flicken der Kleider, die Organisation der Handwerker und andere häusliche Tätigkeiten ließen ihr kaum mehr Zeit für anderes. Die Hoffnung, dass sie durch Nachkommen der Bedürfnisse ihres Mannes ihn glücklich machen konnte, bewahrheitete sich nicht: Hermann Hesse geriet zunehmend in eine Sinnkrise, in der er zur Flucht von Haus und Kindern neigte, um anderswo Antworten auf seine Lebensfragen zu finden. Mia blieb mit ihren Kindern zu oft alleine in der Stille von Haus und Landschaft zurück. Die Ehe begann zu kriseln, die Einsamkeit nagte an ihrer Seele und leistete langsam einer Depression Vorschub, die sich später weiter manifestieren sollte.
Als Ausgleich hätte die Photographie dienen können – doch Mia hatte sich gründlich getäuscht in der Aufgeschlossenheit hier am See, ihre moderne Art der Photographie fand bei der konservativ geprägten Landbevölkerung keinen Widerhall. Hier schätzte man das Althergebrachte in Form arrangierter idealisierter Aufnahmen, für moderne künstlerische Ablichtungen fehlte das Geld und das Interesse. Die Aufträge blieben daher aus, sie musste sich darauf beschränken, gelegentlich ihre Kinder und die Landschaft zu photographieren, war dadurch auf sich selbst zurückgeworfen. Nicht einmal ihr Mann ließ sich von ihr für offizielle Photos ablichten – er trat lieber vor die Linse der Münchner Photographin Gret Widman…
Der Aufbruch – Das jähe Ende der Idylle auf der Halbinsel Höri
Nach fünf Jahren im eigenen Haus musste sich das Ehepaar eingestehen, dass für sie kein Bleiben mehr hier war. Nur noch eine Veränderung konnte Belebung in die festgefahrene Situation bringen. Hesse selbst bezeichnete sich als Nomade und Nicht-Sesshaften, der unmöglich an einem Ort verharren könne, während Mia genug hatte vom Leben in der Fremde und daher dafür plädierte, dass die Familie wieder in die Schweiz zieht -in ihr Heimatland, in die Nähe von ihren Freunden und Familie, ein Aufflackern ihrer früheren Entscheidungsfreudigkeit war kurz wieder erkennbar.
Im Jahr 1912 zog das Ehepaar Hesse nach Verkauf des Hauses nach Bern – jedoch sollte sich die Beziehung nicht mehr erholen. Die Photographie, die sich weiterentwickelte, konnte von Mia nicht mehr weitergeführt werden – sie erkrankte ernsthaft und schwer an einer manischen Depression.
Die Ehe wurde 1923 gegen anfänglichen Widerstand von Mia geschieden, bevor sie schließlich doch einwilligte. Sie zog sich zurück in ein Häuschen in Ascona, wo sie ein bescheidenes Leben führte. Der Kontakt zwischen Mia und Hermann Hesse riss nie ab. Sie überlebte Hermann Hesse um ein Jahr – sie schlief in Sommer 1963 friedlich ein.
Heute hat sie ihren Platz wiedergefunden: Heute würdigen wir nicht nur ihre Leistung als moderne Photographin, sondern sie hat entscheidend am Fundament mitgewirkt, von dem sich Hesse hat weiterentwickeln können, darüber ging sie selbst verloren.
Dipl.-Biol. Eva Eberwein lebt im Mia- und Hermann-Hesse-Haus in Gaienhofen am Untersee des Bodensees, und bewahrte das Haus und Grundstück vor dem Abriss bzw. der Überbauung. Nach Beendigung ihrer Arbeit in Forschung, Lehre und Wissenschaft widmet sie sich jetzt der Kulturarbeit rund um das Haus: Neben der Restaurierung des historischen Gartens liegt ein Fokus der Arbeiten auf der ersten Frau Hermann Hesses sowie der gesellschaftlichen Strömung der Lebensreform um 1900.
Weiterführende Information:
E. Eberwein, M. Leister: Lichtwerke- Mia Hesse, geb. Bernoulli als Photographin- Versuch einer Nahaufnahme. Hegau- Geschichtsverein Singen, 2013
E.Eberwein: Mia Hesse geb. Bernoulli – Gaienhofener Alltag neben Hermann Hesse. „Fenster zum See“ – Materialien aus dem Hesse Haus, Heft Nr. 1 (Eigenverlag)
www.mia-und-hermann-hesse-haus.de
Abbildungen: ©E. Eberwein, MHHH
Endlich wird auch die Bedeutung dieser außergewöhnlichen Frau einmal hervorgehoben, die zweifelsohne mehr war, als nur eine der Frauen an Hermann Hesses Seite. Ein sehr gewinnbringender und facettenreicher Beitrag. Mehr davon bitte!
Sehr geehrte Frau Schönle,
das freut uns sehr! Wir geben es gern an unsere Autorin weiter. Ihr Lob ist unser Ansporn, im Rahmen der Ausstellung „Beziehungsstatus: Offen. Kunst und Literatur am Bodensee“ noch mehr Geschichten starker Frauen zu erzählen.
Herzliche Grüße
Simone Lipski